CVI – eine multidisziplinäre Herausforderung

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Vier Jahre multidisziplinäre Beratungsstelle am Sehbehinderten- und Blindenzentrum Südbayern in Unterschleißheim

Zerebral (bzw. zentral) bedingte Störungen der visuellen Wahrnehmung („Sehstörungen“) bei Kindern werden unter dem Oberbegriff „cerebral visual impairment“ (abgekürzt „CVI“) zusammengefasst. Die häufigste Ursache für CVI sind Schädigungen des Gehirns durch Sauerstoffmangel insbesondere im Rahmen von Frühgeburten oder Geburtskomplikationen, morphologische (z.B. durch entzündliche oder metabolische Erkrankungen) und genetisch bedingte Entwicklungsstörungen des Gehirns. Epidemiologische Studien zeigen, dass bei etwa einem Drittel der Kinder mit einer Sehbehinderung („low vision“) eine zerebrale Ursache vorliegt. In der augenärztlichen und orthoptischen Untersuchung finden sich bei manchen Kindern ein eingeschränktes Gesichtsfeld, eine reduzierte Sehschärfe, ein reduziertes Kontrastsehen oder ein reduziertes Farbsehen; zusätzlich können Störungen der Blickmotorik (z.B. der Fixation) vorliegen. In der neuropsychologischen Untersuchung zeigt sich häufig eine Beeinträchtigung des Überblicks über die aktuelle Umwelt (sog. Szenenwahrnehmung) bzw. über Vorlagen (Bilder, Bücher, Hefte). Hinzu kommen oft Schwierigkeiten bei der Form- und Objektwahrnehmung, der Raumwahrnehmung und räumlichen Orientierung und beim Erkennen von Gegenständen und Gesichtern. Ältere Kinder mit CVI haben zudem häufig Schwierigkeiten mit der ganzheitlichen Verarbeitung von Textmaterial (Wörter, Zahlen); das Buchstabe-für-Buchstabe Lesen nimmt (zu) viel Zeit in Anspruch, ist daher teilweise außerordentlich mühsam und erschwert auch das Lesesinnverständnis. In den meisten Fällen stellen die genannten visuellen Wahrnehmungsprobleme eine nachhaltige Behinderung bei der Bewältigung der Anforderungen im Alltag und in der Schule bzw. Ausbildung und in herausfordernden sozialen Situationen dar. Da es bis jetzt keine allgemein akzeptierte Definition von „CVI“ gibt, existieren auch keine verbindlichen Diagnosekriterien und keine Diagnoseziffer nach ICD-10. Fehlende diagnostische Standards hinsichtlich der Untersuchung von Beeinträchtigungen der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit außerhalb der augenärztlich und orthoptisch untersuchten visuellen und okulomotorischen Funktionen sind eine der Hauptursachen für die fachlich oft schwierige diagnostische Erfassung und Einordnung der visuellen Probleme bei CVI und damit verbunden einer hohen Dunkelziffer betroffener Kinder.

Seit 2017 können in der neu gegründeten multidisziplinären Beratungsstelle für visuelle Wahrnehmung (MB-CVI; www.sbz.de/beratung/beratungsstelle-cvi) am Sehbehinderten- und Blindenzentrum Südbayern (SBZ) in Unterschleißheim Kinder und Jugendliche mit Verdacht auf CVI untersucht werden. Im Vordergrund der neuropsychologischen Diagnostik steht daher eine umfassende Untersuchung der visuellen Wahrnehmung; zusätzlich werden die betroffenen Kinder und Jugendlichen bzw. ihre Eltern ausführlich zu Schwierigkeiten im Alltag und in der Schule befragt. Das gewonnene individuelle Profil erlaubt eine zuverlässige Diagnose und Indikationsstellung für eine mögliche Behandlung bzw. für die fachliche Beratung für einen guten Umgang mit den CVI-bedingten Schwierigkeiten im Kindergarten, in der Schule, in der Ausbildung und im Alltag.

Aufgrund mangelnder spezifischer Diagnoseverfahren wurde in einem vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus geförderten Forschungsprojekt am SBZ ein diagnostischer Standard entwickelt und evaluiert. In einem weiteren, vom Bayerischen Sozialministerium geförderten Forschungsprojekt wurde die Wirksamkeit von Software basierten Trainingsverfahren zur Verbesserung des Überblicks sowie bei älteren Kindern auch der ganzheitlichen Textverarbeitung untersucht. Die Ergebnisse sind erfolgversprechend; die meisten Kinder haben davon profitiert und ihre visuellen Schwierigkeiten in der Schule und im Alltag haben deutlich abgenommen. Auf der Grundlage dieser positiven Erfahrungen wird derzeit in einem weiteren Forschungsprojekt, das von der Dr. Gabriele Lederle-Stiftung finanziell gefördert wird, die Möglichkeit eines Internet basierten Lesetrainings geprüft, das es den betroffenen Kindern und Jugendlichen erlaubt, die ganzheitliche Textverarbeitung unter fachlicher Supervision zuhause selbst zu üben.

Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit CVI setzt eine multidisziplinäre Zugangsweise (Augenheilkunde, Orthoptik, Neuropsychologie, Frühförderung, Schul- und Sonderpädagogik) voraus, die die Befunde aller beteiligten Disziplinen berücksichtigt, integriert und schließlich eine ganzheitliche Beurteilung der individuellen Sehbehinderung sicherstellt. Dies gilt nicht nur für die diagnostische Erfassung der visuellen und kognitiven Schwierigkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit CVI, sondern auch für eine optimale Versorgung und Betreuung, da auch nach einer erfolgreichen Behandlung die Umsetzung der gelernten visuellen Wahrnehmungsstrategien häufig eine weitergehende Unterstützung vor (z.B. in der Frühförderung oder im Kindergarten) und nach Schuleintritt erforderlich ist.

Prof. Dr. Josef Zihl

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